Nicht ‚besonders‘ schlimm

23Feb10

In einer Innenstadt am Wochenende. Eine Frau ist spätabends mit dem Auto unterwegs. Irgendwann fährt sie dabei über eine rote Ampel. Als sie von der Polizei angehalten wird, stellt sich heraus, dass sie aufgrund der Menge Alkohols in ihrem Blut „völlig fahruntüchtig“ ist.

Schon bricht eine Welle der Empörung los. Denn die Frau ist nicht irgendwer, es ist Margot Käßmann, EKD-Ratsvorsitzende und damit höchste Vertreterin der evangelischen Kirche in unserem Land. Im Radio äußert sich ein Mann, er habe „kein Verständnis dafür, wenn sie sagt, sie sei über sich selbst erschrocken.“ Ein anderer sagt: „Man gönnt es ja einem Menschen, wenn er solch ein Amt erklimmt, aber wenn die dann sowas machen…“

Derartige Aussprüche spiegeln ein Verständnis von „Vorbild“, das ich nicht teile. Natürlich ist es schlimm, dass Frau Käßmann – oder irgendjemand – nachts im betrunkenen Zustand am Steuer sich und andere in Gefahr bringt. Aber es ist nicht besonders schlimm. Menschen des öffentlichen Lebens sind eben auch Menschen. Und sie verlieren in meinen Augen nicht gleich ihre Vorbildwirkung, wenn sie sich mal einen Fehltritt leisten.

Im Gegenteil: Erst dadurch, dass auch Vorbilder nicht perfekt sind, Fehler begehen und sich selbst in Schwierigkeiten hineinmanövrieren, erscheinen sie mir ähnlich genug, um mich mit ihnen zu identifizieren. Und wenn es an Frau Käßmanns Verhalten etwas „Vorbildhaftes“ gibt, dann, dass sie ihr Fehlverhalten eingestanden hat, und bereit ist, sich den rechtlichen Konsequenzen zu stellen. Was ein schlechtes Vorbild ist, hat und vor einigen Jahren ein gewisser Dieter B. – ebenfalls bei einem Verkehrsdelikt – gezeigt: Denn dass er den ihn anhaltenden Polizisten zum Abschied bloß „einen schönen Abend“ gewünscht hat, mag glauben, wer will!

Doch das eigentliche Problem liegt in dem „unaufgeklärten“ Vorbild-Verständnis von Leuten, die andere auf’s Podest heben – und dann meinen, diese wären verpflichtet, dort in allen Situationen und auf unbestimmte Zeit zu bleiben. Wer seine Vorbilder derart idealisiert, wird aus ihnen kaum Gewinn ziehen. Denn die Frage kann doch nicht sein: „Wie werde ich perfekt?“, sondern nur „Wie schaffe ich das, was mir wichtig ist, obwohl ich nicht perfekt bin?“

Und unter diesem Gesichtspunkt sind „unperfekte“ Vorbilder auf geradezu ironische Weise ideal.  Durch ihre eigenen Schwierigkeiten können sie uns Ideen und Motivation geben, unsere inneren und äußeren Widerstände zu überwinden. Und auch berechtigte Hoffnung, dass Menschen mit Ecken und Kanten nicht zum Versagen verdammt, sondern eben menschliche Normalität sind. Es bringt also nichts, vor den selbst errichteten Podesten überhöhter Idole auf die Knie zu fallen – weder ihnen noch uns!



7 Responses to “Nicht ‚besonders‘ schlimm”

  1. Natürlich ist die Empörung groß, die Presse stürzt sich auf diese Ereignis wie ein Geier auf seine Beute, ja, sie wartet gerade zu darauf.

    Von diesem Gerede “ Vorbildfunktion “ halte ich ebenso nichts, dass auch sie ein Mensch ist wie du und ich mit Stärken und Schwächen und eigenem Seelenleben das gehört dazu.

    Dennoch, eine Frau – egal in welcher Position – mit Verstand, sollte schon wissen, dass sie sich und andere in große Gefahr begibt, wenn sie am Steuer sitzt und 1,5 Promille im Blut hat.

    Wenn ein junger Mensch einen solchen Fehler aus jugendlichem Leichtsinn begeht, dann mag man noch wegen des jugendlichen Alters Verständnis aufbringen können, aber eine Frau mit 51, Verstand, Lebenserfahrung und Wissen sollte sich nüchtern hinter das Lenkrad setzen oder sich ein Taxi rufen – was in ihrer Position sicherlich kein großes Loch in ihrem Etat einreißen wird.

    Dass dadurch über ihre verantwortungsvolle Tätigkeit ein Schatten fällt, wer kann es verdenken ?

  2. @ultraistgut:
    Ich wollte ihr Verhalten auch nicht gutheißen. Aber das Gerede, das jetzt darum entflammt, halte ich bei weitem für übertriebenn. Da kann ich nur sagen: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“ Zwar fahren wir nicht alle um Mitternacht betrunken durch Hannover; aber mein Privatleben in den Augen der Presse: das mag ich mir nicht vorstellen, und ich kann es überhaupt nicht nachvollziehen, zu wie weitreichenden Schlüssen sich da manche Aufschwingen. Auch ein Mensch, der mal einen (großen) Fehler gemacht hat, kann danach durchaus weiterhin verantwirtungsvoll handeln – denke ich.

  3. 3 Marvin

    „Wie schaffe ich das, was mir wichtig ist, obwohl ich nicht perfekt bin“ – wow, das wird ein Klassiker.
    Werde ich dran arbeiten. Insbesondere am ersten Halbsatz, den zweiten kann ich nämlich schon ganz gut 🙂

  4. 4 Christiane

    @Marvin:
    Wie jetzt, du bist nicht perfekt? ICH bin schon verdammt nah dran 😎

  5. 5 Marvin

    Wow. Da bloggt man ein wenig – und trifft die perfekte Frau 🙂

  6. 6 Ralph

    Vorbildfunktion hin oder her. Aber wäre es ein 20 Jähriger gewesen der dann noch an der roten Ampel einen über den haufen gefahren hätte, wäre das Geschrei auch da, nur anders!! „Junger Raser fährt besoffen Mann/Frau tot!!“ Und fast jeder hätte gesagt, „Der gehört in Knast“!! Aber zum Glück ist ja keinem was passiert, da reicht ja auch so eine kleine Entschuldigung hin!!
    Schönes WE

  7. @Ralph:
    Ich finde es ja auch nicht schlimm, dass die Leute sich über das, was sie GEMACHT hat empören. Nur, dass sie es so aufbauschen. Glaubst du wirklich alle Über-20-Jährigen, die da draßen rumlaufen bzw. -fahren, machen keine Fehler mehr? Du bist auch Radfahrer und weißt, dass schlechte Autofahrer leider mehr die Regel als die Ausnahme sind. Und ich möchte mal wissen, welcher Abteilungs- oder Oberabteilungsleiter (von Politikern etc. gar nicht zu sprechen) noch im Amt wäre, wenn er/sie konsequent wegen eines Ausrutschers welcher Form auch immer zurücktreten würde.


Hinterlasse eine Antwort zu Ralph Antwort abbrechen